Wieso die EU aktuell nur nach innen ein Friedensprojekt ist und welche Impulse internationale Beziehungen in Zeiten von Krisen bräuchten – der Friedensforscher Thomas Roithner im Interview.
Die EU wird immer wieder als das größte Friedensprojekt der Geschichte bezeichnet. Kann man davon noch sprechen, wenn wir etwa an die Migrationspolitik und die Toten im Mittelmeer denken?
Ein Friedensprojekt nach innen ist nicht unbedingt eines nach außen. Deutsche und Franzosen schießen nicht mehr aufeinander. Das ist unfassbar viel wert. Aber sie haben sich mittlerweile zusammengetan und schießen – übertragen gedacht – gemeinsam auf andere. Es werden gemeinsame EU-Rüstungsprojekte lanciert und Waffen der EU-Staaten landen in Krisengebieten.
Ein Beispiel ist Mali (European Union Training Mission Mali, kurz EUTM Mali, Anm. d. Red.): Hier wird viel von Stabilisierung gesprochen, aber wessen Stabilität ist gemeint, wenn Europa dort Sicherheitskräfte ausbildet, die gleichzeitig Menschenrechte verletzen?
Friedensprojekt heißt für mich nicht primär, sich zu bewaffnen und Interessen wahrnehmen, sondern: Wie geht man mit Menschen um, die zum Beispiel vor Krieg oder Armut fliehen? Es umfasst für mich genauso: Wie schauen internationale Handelsbeziehungen aus und wer kann davon leben? Das ist ein Friedensbegriff, der weit über die Abwesenheit von Krieg hinausgeht.
Was hat sich seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine in Sachen Militarisierung in der EU verändert?
Vieles, etwa wie wir über Krieg und Frieden sprechen und wie das durch die Parteipolitik und Medien entsprechend repräsentiert wird. Zudem haben sich seither verschiedene Staaten im Kontext der EU engagiert, um der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen. Hier bezieht man sich u. a. auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, das Selbstverteidigungsrecht eines Staates.
Viele dieser Staaten klagen gegenwärtig, dass sich die eigenen Depots zunehmend leeren. Im Rahmen der Europäischen Union gibt es jetzt Debatten über gemeinsame Beschaffung.
Thomas Roithner ist Friedensforscher und Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien. Er forscht und publiziert zu Friedens-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik der EU und Österreichs sowie Friedens- und Konfliktforschung. Als Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund (Österreichischer Zweig) ist er für Zivilen Friedensdienst und aktive Friedenspolitik zuständig.
Zuletzt von ihm erschienen ist:
Pistole, Panzer, Pandemie. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der EU
myMorawa, Wien 2022, 220 Seiten, TB € 15
Wie geht das mit der grundlegenden Ausrichtung der EU und ihren Strukturen zusammen?
Im Vertrag von Lissabon steht, dass Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen nicht zulasten des Unionshaushaltes gehen dürfen. Soll heißen: Die Europäische Union darf eigentlich kein Militärbudget haben. In der EU hat sich aber eine große Kreativität entwickelt, wie man Rüstung stattdessen finanzieren kann: Etwa indem man sie umetikettiert und Industrieförderung nennt (vgl. Glossar), oder indem man sie außerhalb des EU-Haushaltes stellt, etwa durch ein Instrument, das sich European Peace Facility nennt.
Zudem werden Rüstungsbeschaffungen monetär in hohem Maß in bi- und trilateralen Rahmen finanziert. Das sind insbesondere große deutsch-französische Rüstungsprojekte wie der Nachfolger von Eurofighter, FCAS, oder ein neues Kampfpanzer-System.
Wann hat diese Entwicklung zur Militarisierung der EU begonnen?
Schon seit den 1990er Jahren konnte man eine Tendenz zur militärischen Entwicklung der EU beobachten: 1999, anlässlich des Krieges im Kosovo, wurde eine militärische Eingreiftruppe geschaffen. Auch beim Irakkrieg 2003 war die Haltung der EU, weiter eigene autonome Kapazitäten aufzubauen.
Je nachdem, welchen US-amerikanischen Präsidenten es gerade gegeben hat, haben sich die EU-Staaten mehr oder weniger an die USA gebunden. Unter den US-Präsidenten Bush und Trump stand eine autonome EU auf der Agenda. Obama und Biden schafften wieder mehr transatlantische Loyalität. Hier hat v. a. Großbritannien stets in Abhängigkeit zu den USA und zur NATO agiert.
Besonders seit dem Brexit hat Frankreich darauf gepocht, autonome Strukturen aufzubauen, was Rüstung, Truppenentsendungen und Entscheidungsstrukturen betrifft. Ab 2016 ging es mit Militär- und Rüstungsprojekten in Folge unglaublich rasch.
Was genau beinhaltet die Globalstrategie der EU, das Grundlagendokument zu Außen- und Sicherheitspolitik aus dem Jahr 2016?
Hier geht es um das gesamte Spektrum, also Landstreitkräfte, Luft, Marine, Weltraum und, nicht zu vergessen, den Cyberspace. Wobei nicht immer alle EU-Staaten an Bord sein müssen. Ähnlich wie bei Schengen oder dem Euro gibt es ein sicherheits- und rüstungspolitisches Kerneuropa. Ein Beispiel ist der Marineeinsatz der EU am Horn von Afrika, „Atalanta“, wo es laut Europäischem Parlament u. a. um Fragen von Energiesicherheit geht.
Die Globalstrategie ist nur ein Teil und seit 2016 mit anderen Mechanismen und Budgettöpfen eng verzahnt. Oder die Indopazifik-Strategie der Europäischen Union. Natürlich geht es auch darum, militärisch Präsenz zu zeigen. Oder in den Worten von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Wir müssen die „Sprache der Macht lernen“.
Es besteht ein großes Ungleichgewicht: Nimmt man die personelle Stärke für EU-Auslandseinsätze her, ist ein wesentlicher Teil für Militärisches und ein viel kleinerer für zivile Einsatzkräfte da. Wenn man alle EU-Auslandseinsätze seit 2003 anschaut, sind circa 80 Prozent des Personals militärisch. Zentral ist im zivilen Kontext der EU die Entsendung von Polizei und Justizpersonal.
Welche Rolle kann ein Land wie Österreich in der EU und international spielen?
Österreichs außenpolitische Interessen unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht schon wesentlich von anderen EU-Staaten, besonders denen, die NATO-Staaten sind. Beispiel Atomwaffen: Österreich hat – neben Malta und Irland – den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen (AVV, Anm. d. Red.) ratifiziert. Alle anderen EU-Staaten bislang nicht. Österreich hat diesen sogar ganz wesentlich vorangetrieben. Wäre Österreich NATO-Mitglied, wäre das nicht möglich gewesen.
Für manche Fragen können Initiativen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anm. d. Red.) wie das Krisenpräventionszentrum oder der Europarat unsere zentralen Anlaufstellen sein. Mit welchen Institutionen sind Interessen wie Abrüstung oder zivile Krisenprävention am besten umsetzbar? Setzen wir auf einen außenpolitischen Pluralismus, suchen wir uns Verbündete, binden wir andere Akteure wie Thinktanks und Zivilgesellschaft mit ein; und nutzen wir die internationalen Organisationen, von denen mehrere sogar einen Sitz in Wien haben!
Auch der in Österreich in Prüfung befindliche Zivile Friedensdienst, bei dem zivile Friedensfachkräfte lokale Partner in Krisengebieten bei Gewaltprävention und Friedensförderung unterstützen, zählt dazu.
Das alles braucht Zeit zum Aufbau, aber bringt Glaubwürdigkeit. Wenn sich nur die wirtschaftlich und militärisch potenten Staaten etwas ausmachen, dann kommen die Interessen der kleinen Staaten zwangsläufig unter die Räder – das ist dann ein Multilateralismus à la carte statt echter Multilateralismus.
In diesem Sinne müssen wir die Stimmen aus dem Globalen Süden stärker einbinden. Ich glaube, dass sie zur Konfliktbearbeitung benötigt werden.
Glossar
Atomwaffenverbotsvertrag (AVV). Der AVV wurde 2017 in den Vereinten Nationen von 122 Staaten angenommen und ist 2021 in Kraft getreten. Der Vertrag gilt als Meilenstein der globalen Bewegung für nukleare Abrüstung. Österreich beteiligte sich aktiv daran. Der AVV verbietet Entwicklung, Test, Produktion, Besitz, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die Drohung damit. Der Atomwaffensperrvertrag (NVV) aus 1968 verlangt von den Atomwaffenstaaten, in redlicher Absicht abzurüsten. Die Nicht-Nuklearwaffenstaaten dürfen keine Atomwaffen annehmen oder erwerben. Bei den Verhandlungen gibt es wenig Fortschritt. Verbotsvertrag und Sperrvertrag sind nicht in Konkurrenz, sondern komplementär zueinander.
European Defence Fund. Der Europäische Verteidigungsfonds wurde zur Förderung von grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie innerhalb der EU eingerichtet und ist im EU-Finanzrahmen 2021-2027 mit rund acht Milliarden Euro ausgestattet. Der EU-Vertrag von Lissabon (trat Ende 2009 in Kraft) sieht vor, dass Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen nicht zu Lasten des Unionshaushaltes gehen dürfen. Der Verteidigungsfonds wird als Industriepolitik tituliert, was bis dato rechtlich umstritten ist.
European Peace Facility. Die Europäische Friedensfazilität ist ein außerbudgetäres Instrument, das 2021 eingerichtet wurde und in das alle EU-Mitgliedsstaaten einzahlen. Ziel: Frieden erhalten, Konflikte verhindern, die internationale Sicherheit stärken. Das Budget: derzeit 12 Milliarden Euro. Am bekanntesten ist die Finanzierung von militärischem Equipment für die Ukraine. Das Instrument ist in 18 weiteren Ländern im Einsatz. Eine demokratische Kontrolle durch das EU-Parlament ist nicht vorgesehen. Mit welchen Ländern kooperiert wird, entscheidet der Rat, also die Regierungen der Mitgliedstaaten.
OSZE. Zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gehören 57 Teilnehmerstaaten, neben den meisten europäischen Ländern die USA, Kanada und sämtliche Staaten, die früher die Sowjetunion bildeten. Ihre Hauptaufgaben: Erhalt des Friedens in Europa und Hilfe beim Wiederaufbau nach Konflikten. Ihr Hauptsitz ist in Wien. red
Doch für „echten“ Multilateralismus fehlt es zudem an Stärke seitens der Institutionen wie den Vereinten Nationen, die in der Krise stecken.
Gerade jetzt in der Krise könnte man diese Institutionen wieder aufwerten. UNO und OSZE wirken inkludierend, es sitzen alle mit am Tisch. Vor dem Krieg in der Ukraine hat die OSZE in gut zwei Jahren etwa 3.000 lokale Waffenruhen vermittelt. Aber die OSZE hat ein Jahresbudget von 138 Millionen Euro. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik Deutschland gibt unter dem Stichwort „Zeitenwende“ 100 Milliarden für Militär und militärische Infrastruktur aus. Das zeigt politische Prioritäten.
Die OSZE hätte also jetzt in diesen Zeiten mehr Potenzial in Sachen Konfliktlösung?
Die OSZE ist kein Schönwetterprogramm. 1975 – also im Kalten Krieg – wurde die Helsinki-Schlussakte unterschrieben. Damals noch als Konferenz und noch nicht als Organisation. Die Idee war gemeinsame Sicherheit. Es ist gefährlich, wenn es in Krisen keine Gesprächskanäle mehr gibt.
Vor 1989 wurden etwas mehr Konflikte militärisch als mittels Diplomatie gelöst. Aber wir hatten eine Phase ab 1989 bis Mitte der Nullerjahre, in der Verhandlungslösungen die dominante Form zur Beendigung von Kriegen gewesen ist. Die UNO hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Der Atomwaffenverbotsvertrag AVV gilt als Erfolgsgeschichte. Er trat 2021 in Kraft. Dann kam 2022 Russlands Angriffskrieg und damit regelmäßig die Sorge vor einem atomaren Konflikt.
Für mich ist dieser Vertrag ein langfristiges und konstruktives Programm. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen, die sich sofort mit nuklearen Fragen auseinandergesetzt hat.
Doch die atomare Abrüstung passiert nicht mehr. Russland hat ein wichtiges Abkommen ausgesetzt, die USA sind aus einem anderen schon 2019 ausgestiegen.
Deshalb sind Staaten, die ein Atomwaffenverbot verfolgten – und Österreich steht da in der ersten Reihe – in die UN-Generalversammlung gegangen und haben gesagt: Jeder Staat eine Stimme, denn es betrifft alle Staaten.
Dass dieser Vertrag nicht im Sicherheitsrat ausgehandelt wurde, sondern alle UN-Mitglieder zur Verhandlung geladen wurden, ist für mich ein Stück weit Demokratisierung der internationalen Beziehungen.
Im Juli 2017 haben 122 Staaten den Vertrag angenommen, mittlerweile haben ihn 68 Staaten ratifiziert. Und: Es wurde intensiv mit der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet.
Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN hat 2017 den Friedensnobelpreis bekommen. Das ist ein starkes Signal.
Zudem verwendet der AVV einen anderen Sicherheitsbegriff: Wenn es zum Einsatz einer Atomwaffe kommt – sei es aus Vorsatz, aus Versehen oder wegen eines Cyberangriffes –, haben wir das nicht unter Kontrolle – weder humanitär, noch sozial, wirtschaftlich oder medizinisch. Darum das Verbot. Ausgangspunkt war ein menschlicher Sicherheitsbegriff, Human Security, und kein vorwiegend staatlicher. Konkret geht es im Vertrag auch um Hilfe für Opfer und Umweltsanierung.
Der AVV kann also eine Erfolgsgeschichte bleiben?
Ja. Selbst wenn die USA, Russland und China nicht dabei sind. Aber: Wir haben einen völkerrechtlichen Vertrag, mit dem man Druck ausüben kann. Wir haben mittlerweile über 100 Finanzinstitutionen, die jegliche finanzielle Involvierung bei Atomwaffen ausschließen bzw. die Schritte zur Restriktion gegangen sind. Das sind in den vergangenen Jahren deutlich mehr geworden. Hier ist zu sehen: Der Vertrag ist mehr als nur symbolisch. Hier bewegt sich etwas.
Interview: Christine Tragler, Richard Solder
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